World Relays auf den Bahamas mit Dr. Ralf Buckwitz

Freitag, 12. Mai 2017



Schon seit 1995 ist Dr. Ralf Buckwitz als Biomechaniker für den Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) im Einsatz, seit 2000 betreut er an der Seite des Bundestrainers die DLV-Sprintstaffeln. Das Gold der deutschen 4×100 Meter-Sprinterinnen bei den World Relays hat der Berliner, der am Olympiastützpunkt als Koordinator für die Sportverbände beschäftigt ist, aus nächster Nähe mitverfolgt. Im Interview gibt er Einblick in die Geheimnisse des Staffellaufs, die Handschrift von Bundestrainer Ronald Stein und das Streben nach dem perfekten Rennen – von dem er eines schon gesehen hat.

Dr. Ralf Buckwitz, Sie sind seit rund 17 Jahren mit deutschen Staffeln unterwegs. Wie viele Staffelläufe haben Sie wohl schon live miterlebt?

Ralf Buckwitz:
Naja, im Jahr sind es meist zwischen acht und zehn. Ich bin allerdings nicht bei allen Rennen dabei. Vielleicht kommt man dann auf 150. Also: 100 Rennen habe ich bestimmt schon gesehen und analysiert.

War für eine deutsche Staffel schon mal das perfekte Rennen dabei?

Ralf Buckwitz:
Ja, der deutsche Rekord der Männer [Anm. d. Red: 38,02 sec 2012 in Weinheim, mit Julian Reus, Tobias Unger, Alexander Kosenkow und Lucas Jakubczyk] war schon so ein Rennen. Da lief so ziemlich alles optimal. Daher hat er auch noch immer Bestand, obwohl die einzelnen Sprintleistungen jetzt besser geworden sind.

Dass das Finale der DLV-Sprinterinnen in Nassau (Bahamas) nicht perfekt war, konnte man auch als Laie sehen – der erste Wechsel lief etwas holprig. Was hat das Quartett dennoch so stark gemacht?

Ralf Buckwitz:
Es waren zwei sehr gute Wechsel dabei und ein ausbaufähiger. Der Schlüssel zum Erfolg war aber, dass die Ablaufende voll durchbeschleunigt hat – unabhängig davon, wo der Wechsel stattgefunden hat. Dadurch werden Wechsel generell schneller, egal, an welcher Stelle des Wechselraums der Stab übergeben wird. Viele Sprinterinnen der anderen Nationen sind angelaufen, haben gebremst, geguckt, haben Angst gehabt. Dadurch kommt die Ablaufende schwerer ins Rennen.

Welche Rolle spielt hier der Faktor Vertrauen?

Ralf Buckwitz:
Das ist eine ganz entscheidende Frage. Der Ablaufende braucht das Vertrauen, dass der Anlaufende die Sache im Griff hat. Er muss sich trauen voll zu starten. Wenn der Anlaufende ihn nicht erreichen kann, gibt es Mechanismen, um das zu korrigieren – früher „Hep“ zu rufen, dann geht der Arm früher raus und die Geschwindigkeit sinkt. Der Ablaufende muss das Vertrauen haben, dass das funktioniert. Die Komponenten sind Vertrauen, Übung und Erfahrung.

Wie viel Zeit kann eine Staffel, die gut wechselt, im Vergleich mit einer Staffel, die schlecht wechselt, gut machen – bei konstanten Sprintleistungen?

Ralf Buckwitz:
Der Unterschied zwischen einem sehr guten und einem sehr schlechten Wechsel macht bestimmt zweieinhalb Zehntel aus. Der Unterschied zwischen einem normalen und einem guten Wechsel auch mindestens eine Zehntel. Wenn eine Staffel also nicht normal, sondern gut wechselt, ist sie schon mal drei Zehntel schneller. Auch die Sprintleistung der einzelnen Staffelläufer schwankt ja von Rennen zu Rennen um rund zwei Zehntel, ist mal mehr, mal weniger am Optimum.

Man kann also ausrechnen, wie schnell eine Staffel in einer spezifischen Zusammensetzung im bestmöglichen Fall rennen kann?

Ralf Buckwitz:
Genau. Das haben wir damals beim deutschen Rekord der Männer auch gemacht, und die Zeit von Weinheim ging in die errechnete Richtung. Weil die Einzelleistungen jetzt noch besser sind, sind wir daher auch optimistisch, dass dieser Rekord demnächst wieder fallen kann, wenn mal alles vernünftig läuft. Eigentlich hatten wir schon bei den Olympischen Spielen darauf gehofft.

Aus Ihren Antworten kann man heraushören, dass die Gleichung „guter Sprinter = guter Staffelläufer“ nicht aufgeht…

Ralf Buckwitz:
Nein, das funktioniert tatsächlich nicht automatisch, da gibt es ja auch genügend Beispiele. Großbritannien übt das jetzt schon eine ganze Weile… Es sind zwei Kurvenläufe dabei, es sind drei Wechsel dabei, man muss die Nerven bewahren, man braucht ein gutes Auge um zu erkennen, was sich vor einem tut. Gut in der Staffel zu laufen ist etwas anderes als gut im Einzel zu sprinten.

Erinnern Sie sich an besonders talentierte deutsche Staffelläufer?

Ralf Buckwitz:
Im Quartett der Bahamas zum Beispiel Alexandra Burghardt. Die hat Nerven wie Drahtseile. Als Startende übergibt sie fehlerfrei den Stab, als Ablaufende läuft sie immer Punkt null ab, das sind ganz sichere Wechsel. Die Ablaufgenauigkeit ist ein wesentliches Kriterium. Wenn man da eine hohe Konstanz erreicht, ist das natürlich super.

Ein Sprinter, der vor 22 Jahren seinen ersten Einsatz in einer deutschen Nationalstaffel hatte und noch immer im deutschen Staffel-Aufgebot steht, ist der Wattenscheider Alexander Kosenkow.Was ist sein Geheimnis?

Ralf Buckwitz:
Er läuft auf einer Position, die sehr schwierig ist: Position drei, in der Kurve. Dort passieren häufig Fehler. Der Ablaufende läuft in die Kurve, der Anlaufende kommt von der Geraden. Alexander Kosenkow ist ein ausgezeichneter Kurvenläufer und dort in der Vergangenheit schon extrem schnell gelaufen. Er hat darüber hinaus nun auch die Erfahrung, sodass er immer konstant abläuft und sich nicht von dem beirren lässt, was um ihn herum passiert.

Das heißt, ein etablierter Staffelläufer ist in einer Formation schwer zu ersetzen?

Ralf Buckwitz:
Sagen wir es so: Wenn ein Trainer einen Athleten im Aufgebot hat, der sich bewährt hat, dann spielt für die Aufstellung eine um fünf Hundertstel schnellere oder langsamere Laufleistung nicht die entscheidende Rolle. Es ist immer schön, wenn sich jemand mit schnelleren Zeiten ins Gespräch bringt. Aber deswegen wird nicht gleich die Staffel umgeschmissen, wenn man auf eine eingespielte Formation zurückgreifen kann.

Lässt sich bei Staffeln oder Nationen auch eine bestimmte Handschrift des zuständigen Trainers erkennen?

Ralf Buckwitz:
Es gibt durchaus Unterschiede, auch im Training. Es gibt Trainer, die stark auf Zahlen fixiert sind, stark den direkten Vergleich heranziehen, es gibt Trainer, die versuchen, gemeinsame Erfolgserlebnisse hervorzurufen, um das Selbstbewusstsein im Team zu stärken…

Wie würden Sie den Stil des deutschen Staffel-Bundestrainers Ronald Stein beschreiben?

Ralf Buckwitz:
Ronald Stein legt Wert auf Erfahrung. Und wählt im Zweifel die sichere Variante – keine Kamikaze-Wechsel. Außerdem ist es ihm wichtig, dass sich die Sprinter vertrauen. Im Training ist alles Theorie, da sind die deutschen Staffeln schon wahnsinnig schnelle Zeiten gelaufen, schneller als im Wettkampf. Aber das nützt nichts, wenn es im Wettkampf nicht funktioniert. Dieses Vertrauen muss man aufbauen. Wenn ich im Training immer bei 25 Metern wechsle, ist die Gefahr, dass es im Wettkampf daneben geht, größer, als wenn ich bei 20 Metern wechsle. Das bleibt den Athleten im Kopf hängen. Ronald Stein ist es wichtig, dass im Training Vertrauen aufgebaut wird und dass sich die Athleten sicher sind in dem, was sie tun.

Da hilft es vermutlich auch, wenn sich die Athletinnen wie jetzt in der aktuellen Staffelformation gut miteinander verstehen…

Ralf Buckwitz:
Ja – und das ist nicht selbstverständlich! Die Sprinterinnen sind zuerst Konkurrentinnen. Mit sechs Athletinnen reist eine Staffel zum Wettkampf an, nur vier können laufen. Da geht schon mal das erste Problem los. Dann hoffen alle auch auf Einzelnormen, es gibt aber pro Strecke nur drei Startplätze und womöglich muss eine Athletin mit Norm zuhause bleiben. Dass sich also in der Staffel sofort der Teamgedanke einstellt, ist nicht einfach und nicht selbstverständlich. Dafür muss man etwas tun.

Von welchen Staffeln können Sie sich noch etwas abschauen?

Ralf Buckwitz:
Wir haben uns in Rio die Japaner und die Chinesen genau angeschaut. Die haben super Wechsel gehabt, die müssen wild trainiert haben, ansonsten würde das nicht funktionieren. Das sind unsere direkten Konkurrenten, demzufolge müssen wir das auch hinkriegen. In Deutschland war der Fokus im Sprint der Männer eine Weile mehr auf die Einzelleistungen gerichtet. Das ändert sich jetzt wieder, möglicherweise auch bedingt durch das Abschneiden bei den Olympischen Spielen [Anm. d. Red: Dort verpassten die DLV-Sprinter als Neunte der Vorläufe das Finale]. In diesem Jahr wird wieder mehr Wert auf die Wechsel gelegt.

Welches war das emotionalste Rennen, das Sie je mitverfolgt haben?

Ralf Buckwitz:
Ich war ja nicht bei allen Meisterschaften mit dabei. Aber für mich persönlich war die Goldmedaille der Frauen jetzt bei den World Relays über 4×100 Meter das Beeindruckendste, was ich erlebt habe. Im Sprint mit Konkurrenz aus den USA und Jamaika die deutsche Fahne zu sehen, das kann man sich schon mal einrahmen. Und über 4×200 Meter der Frauen haben wir die Amerikanerinnen besiegt. Man merkt, dass man nach diesem Erfolg anders ernstgenommen und anders wahrgenommen wird. Wir sind anschließend von vielen anderen Nationen angesprochen worden.

Die Siegerzeit von 42,84 Sekunden lag allerdings doch deutlich über der Leistung des Vorjahres, als die DLV-Staffel in Regensburg 42,00 und in Mannheim 41,68 Sekunden gerannt ist. Woran lag das?

Ralf Buckwitz:

Die Zeiten sind in Nassau eigentlich irrelevant. Man hat gesehen, dass fast alle Staffeln eine Sekunde langsamer waren als normalerweise. Der Starter steht in Nassau 30 Meter weit weg, daher ist die Reaktionszeit langsamer, auf der einen Seite hat man 3,5 Meter pro Sekunde Gegenwind, auf der anderen Seite 3,5 Meter pro Sekunde Rückenwind. Wichtig ist in dem Stadion nur der direkte Vergleich.

Was können wir bei der WM in London (Großbritannien; 4. bis 13. August) erwarten?

Ralf Buckwitz:
Die Mädels hatten jetzt mal so einen Erfolg und wissen, dass das funktioniert. Da wollen sie natürlich nicht mehr Vierte werden. Die Amerikanerinnen und die Jamaikanerinnen zu bezwingen ist immer äußerst schwierig. Aber auch die müssen erst einmal drei vernünftige Wechsel hinkriegen. Um eine Medaille werden die deutschen Frauen immer laufen. Die Athletinnen sind jung, und wir haben eine große Breite an talentierten Sprinterinnen – sie können noch viele Erfolg feiern.
Auch bei den Männern ist nicht aller Tage Abend. In Rio sind wir gescheitert, das hatte Ursachen. Bei den Männern sind international alle Staffeln dicht beieinander. Da müssen alle im entscheidenden Moment topfit sein und die Wechsel müssen passen. Die Ausgangslage ist aber dieselbe wie in den vergangenen zwei, drei Jahren. Und da konnten wir immer um den deutschen Rekord sprinten.
Text: Silke Bernhart
Quelle: www.leichtathletik.de